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Das schwer durchschaubare Spiel der Musik mit der Zeit

 

Musik ereignet sich in der Zeit. Selbst ein einziger Ton, einmal angeschlagen, verbraucht eine,

wenn vielleicht auch nur in Zehntelsekunden messbare Zeit. Auch die Imaginationen, Zeit in Raum

zu überführen, wie es Gurnemanz im „Parsifal“ im Gespräch dem „tumben Thoren“ vorzugaukeln

versucht, sind nichts anderes als verzweifelte Anstrengungen, die Zeit anzuhalten: der Raum

gleichsam als eine Art Polder, in dem sich der reißende Strom (der Zeit) vorübergehend beruhigt

sammelt. Was die Musik vermag, ist: den Stillstand der Zeit zu suggerieren. Das subjektive

Empfinden des „Verweile doch…“ im Zuhörenden zu evozieren. Das barocke Adagio „funktioniert“ in

diesem Sinne. Eine andere Möglichkeit der Musik, Zeit zu bannen, besteht in der straff

komponierten Form: Form überspielt hierbei die „Zeit“, degradiert letztere quasi für kurze Dauer

zur Nebensache. Eine weitere Chance der Musik im steten Konflikt mit der Zeit bietet sich an: Wenn

Musik den Ablauf der Zeit sozusagen „unterläuft“, sich „auf die Zeit“ setzt und sich scheinbar bis in

die Unendlichkeit forttragen lässt, wobei sie, mit der ihr eigenen Raffinesse, vorzutäuschen

versteht, dass sie es ist, die den Ablauf bestimmt, nicht die konkurrierende „Zeit“.

 

Auf diese Weise haben es viele moderne Komponisten unternommen, abgelöst von dramatischen

oder psychologisierenden Inhalten und Verknüpfungen, das Phänomen der „Zeit“ quasi abstrakt zu

erfassen, es sozusagen „selbst“, ohne narrative Ummäntelungen, zu komponieren, sei es als

„zeitlose“, sich unablässig fortspinnende musikalische Bewegung, wie etwa bei Philip Glass, oder

als unendliche Reihung eines Klanges wie in LaMonte Youngs „arabic numeral“, aber auch schon bei

Eric Satie, wenn er in seinen „Vexations“ den Pianisten stundenlang dieselben Takte spielen lässt.

 

Wie sehr das Thema „Zeit und Musik“ weiterhin Komponisten, Interpreten und Musikologen zu

interessieren vermag, das zeigte eine „Musik-der-Zeit“-Veranstaltung des Westdeutschen

Rundfunks in Köln. Harry Vogt, Nachfolger von Wolfgang Becker-Carstens in der Neue-Musik-

Redaktion des Senders, bevorzugt in seinen Programmgestaltungen thematische Zusammenhänge

und Verweise. So vermittelte auch dieses „Musik-der-Zeit“-Wochenende in sechs Konzerten unter

dem Titel-Stichwort „zeit–los“ spannende Einblicke in die fortdauernde musikalisch-kompositorische

„Zeit“-Diskussion, für die hier Salvatore Sciarrino, Toshio Hosokawa, Wolfgang Rihm und Georg

Friedrich Haas neue Werke geschrieben hatten. Hinzu traten – außer einem ein wenig marginalen

Auftritt des indischen Sayeeduddin-Dagar-Ensembles mit Dhrupad-Gesang – gleichsam als schon

historische Pflöcke eingeschlagen, John Cages „One9 and 108“ aus dem Jahre 1991, das in der hier

wiedergegebenen Simultan-Fassung für Shô und Orchester sogar als Uraufführung annonciert

werden konnte, sowie Morton Feldmans „For Samuel Beckett“ (1987), ein fast einstündiges

Ensemble-Stück, in dem Feldman weniger „Zeit“ komponiert als vielmehr „Zeit“ in Musik

verwandelt, als ein und denselben Zustand. Der Komponist erscheint dabei wie ein quasi

unbeteiligter Betrachter, der die in kurze, ständig repetierte Klangformeln sich verwandelnde „Zeit“

kühl distanziert beobachtet. Aber dann scheint das intelligent erdachte Unternehmen doch eine

seltsame, fast kuriose Wendung zu nehmen: die (wortlose) Adaption Becketts und seiner Sprache

entfaltet in der Korrespondenz zum Komponierten plötzlich eine große emotionale, sehr persönliche

Spannung, die hier um so stärker spürbar war, als dem Dirigenten Sylvain Cambreling mit dem

„Klangforum Wien“ eine absolut perfekte, gleichwohl ungemein leuchtende, im Klang beinahe

sensualistische und höchst plastische Wiedergabe des Werkes gelang.

 

Einen kaum weniger zwingenden Eindruck hinterließ die Darstellung des Cage-Werkes durch das

WDR-Sinfonieorchester Köln (Einstudierung Ken Takaseki) und die grandiose Shô-Spielerin Mayumi

Miyata. Innerhalb der von Cage festgelegten „Zeitklammern“ entwickelten die individuell

agierenden Musiker bemerkenswerte Entscheidungslust im Platzieren der vorgegebenen

Klangereignisse. In das schwebende, fantasievolle, ganz leicht dahinfließende Spiel des Orchesters

fügte sich Mayumi Miyata mit ihren Shô-Soli geschmeidig und höchst klangpräsent ein.

 

Die Radikalität, mit der Feldman und Cage ihre komponierten Klang-Zeit-Strukturen realisieren, ist

vermutlich nur schwer weiterzutreiben. Der Übersteigerung scheinen Grenzen gesetzt. So

überraschte es nicht, dass die anderen an dem „zeit-los“-Projekt beteiligten Komponisten zum Teil

wieder inhaltliche Assoziationen und Zeichen mit ihrer Musik verbanden, genauer: aus der Musik

Zeichen entwickelten, die außermusikalisch deutbar sind, was bei Hosokawa und Sciarrino auch an

den Titeln ihrer neuen Werke ablesbar ist. Hosokawas „Tabi-bito“ (zu deutsch: „Wanderer“) stellt

einen solistisch agierenden Schlagzeuger (brillant: Isao Nakamura) dem groß besetzten Orchester

gegenüber: der Solist repräsentiert das Individuum, das Orchester die Welt, den Kosmos,

die Natur.

 

Das Individuum setzt einen Klang in die Welt, dessen Schwingungen den leeren Raum

vorübergehend „besetzen“, ehe sie wieder in die Stille, in das Verlöschen zurückfallen. Hosokawa

greift in diesem Wechselspiel zwischen „Erschaffung des Kosmos“ und Rückfall in den „Anti-

Kosmos“ auf philosophische Ideen des Taoismus zurück. Gestische Kreisbewegungen des Solisten

korrespondieren mit der in der Musik festgelegten Zeit-Struktur. Der „Wanderer“ schickt Klänge aus

in die „Welt“, die diese „klingend“ definieren, aber nur für einen kurzen Augenblick: im Verlöschen

scheinen sie wie aus einer anderen Welt, der Welt des Todes nachzuhallen. Aus dem Wechselspiel

gewinnt Hosokawa eine leise, intensive Innenspannung der Klänge, in die sich der Zuhörer

unmerklich hineingezogen fühlt.

 

Auf die Todesmetapher spielt auch Sciarrino mit seinem neuen Stück „Il giornale della necropoli“

(„Tagebuch aus der Totenstadt“) für Akkordeon und Orchester an: feinste, leiseste, oft kaum noch

hörbare Klänge scheinen in unser Innerstes eindringen zu wollen: die Totenstadt, das sind wir.

Sciarrino betreibt gleichsam klingende, tiefenpsychologische Palimpsest-Forschung, die uns aus den

Tiefen der Zeit etwas über die alten Erfahrungen mitteilen möchte, die unablässig auch unser

immer wieder vergehendes Leben weiter bestimmen. Wie bei Hosokawa das Schlagzeug scheint

hier das Akkordeon (mit intensiv ausgehörten, oft nur hingetupften Klängen gespielt von Teodoro

Anzellotti) dem „Individuum“ die stille „Menschliche Stimme“ zu geben.

 

Das Thema „Zeit“ und „zeit-los“ eröffnet in der Musk immer wieder andere, neue und auch

zurückblickende Perspektiven. Wolfgang Rihms uraufgeführtes Werk mit dem Titel „Frage“ (für

Stimme und sieben Instrumente) reflektiert fünfzig Minuten lang über Koinzidenzen zwischen

Malerei und Musik, präzis: über Zeichensetzungen und Zeitstrukturen, die sich aus der

Beobachtung von Bildern (in diesem Fall der von Rihm hoch geschätzten Malerei Kurt

Kocherscheidts) für ein autonomes Komponieren ergeben. Im (am) Bild interessiert allein der

„Produktionsprozess“. Für Rihm ergibt sich daraus ein jeweils völlig neuer Kompositionsansatz, den

er dann mit der für ihn charakteristischen Fortschreibung und Sublimierung des Materials auch

diesmal wieder imponierend ausführt. Salome Kammers „Stimme“ und das Ensemble Recherche

glänzten mit einer perfekten und zugleich hoch expressiven Darstellung des Werkes.

 

Immer ausgreifender und souveräner wird auch das Komponieren des Österreichers Georg

Friedrich Haas. Im einstündigen, für vierundzwanzig Instrumente gesetzten „In vain“ (englisch:

vergebens) werden in einer komplex gewebten Klangstruktur aus temperierter Intonation und

Mikrotonalität komponierte Bewegungen quasi „inszeniert“, rasende Tempobeschleunigungen,

spiralförmige Drehungen kehren in sich selbst, in die Ausgangssituation zurück, in einen „rasenden

Stillstand“, in dem „Zeit“ wie aufgehoben wirkt.

 

Das ist kompositorisch raffiniert organisiert, gewinnt hoch gespannte Bewegungsenergien und

enorme Klangdichte. Kein Lob ist zu hoch für die fulminante Interpretation des Werkes durch das

Klangforum Wien unter Sylvain Cambreling, das zum Abschluss der Konzerte unter demselben

Dirigenten noch Gérard Griseys „Quatre chants pour franchir le seuil“ zum ersten Mal in

Deutschland vorstellte: „Vier letzte Lieder“, klingende und gesungene Meditationen über das

Überschreiten der „letzten Schwelle“, auf Jahreszahlen auf antiken Grabstätten, auf Texte von

Vergänglichkeit, Tod und das Ende der Zeit.

 

Cathérine Dubosc gestaltete Griseys Lieder mit tief berührender Identifikation. Gérard Grisey hat

seine „Vier letzten Lieder“ nicht mehr gehört. Im Rückblick erscheinen sie wie eine dunkle

Vorahnung seines frühen, unerwarteten Todes. „Zeit“ wird in diesen Liedern auch als Schicksal und

Vergeblichkeit erfahrbar. In Griseys „Stele“, die vor den „Quatre chants“ erklang, formen zwei

Schlagzeuger aus dem dunklen Klang zweier großer Trommeln die „Grabsäule“ des Komponisten:

 

Eine große Trauermusik – zeitlos im klassischen Sinn. Auch dieses subjektive Gefühl korrespondiert

auf vielleicht schwer erklärbare Weise mit der Objektivität von Zeit.

 

Zuerst erschienen in: neue musikzeitung 12/2000, Wiederveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der ConBrio Verlagsgesellschaft, www.nmz.de