Aufbruch in die Moderne
Wegweisende Instrumente im 20. und 21. Jahrhundert
Der Orgeltag Kassel gibt einerseits einen Blick auf das spektakuläre neue Orgelwerk in der evangelische Hauptkirche St. Martin frei – im Rahmen einer zweistündigen Besichtigung wird das im vergangenen Jahr von Rieger Orgelbau erstellte und in seiner äußeren Gestalt von Yngve Holen in Zusammenarbeit mit Ivar Heggheim erdachte Instrument quasi auf Herz und Nieren geprüft. Neben den vielfältigen Qualitäten als repräsentatives Instrument weist dieses Werk besonders auch zahlreiche Möglichkeiten zur Darstellung Neuer Musik wegweisend umgesetzt auf. Es treffen Innovation und Tradition also in inspirierender Weise aufeinander!
Dann folgt eine Orgeltour durch die Stadt, bei der einige Instrumente aus den vergangenen Jahrzehnten besucht werden. Nach der fast flächendeckenden Zerstörung Kassels im II. Weltkrieg hat sich anstelle der historisch gewachsenen eine neue Orgellandschaft geformt, die verschiedene (Bau-)Stile aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf einem engen Raum versammelt. Wer also Spaß an einer Spurensuche im Bereich des sog. neobarocken Orgelbaus hat, wird sicherlich einige positive Überraschungen erleben können.
Samstag, 30. Juni 2018, 10 bis 18 Uhr
Tagungsleitung: Peer Schlechta
Teilnehmergebühr € 60
Mindestteilnehmerzahl: 25 Personen
Die musikalische Arbeit an St. Martin in Kassel ist seit Jahrzehnten von der Begegnung mit zeitgenössischer Musik geprägt. Komponisten wie Dieter Schnebel, Charlotte Seither, Isabell Mundry, Marek Kopelent, Lucia Ronchetti und viele andere standen immer wieder im Mittelpunkt der künstlerischen Arbeit.
Die neue Orgel steht im Kontext dieser Spurensuche zeitgenössischer Musik. Das Instrument sucht in seiner klanglichen, technischen und visuellen Konzeption neue Wege der Vernetzung der genannten künstlerischen Parameter.
In dem neuen Instrument der Firma Rieger Orgelbau vereinen sich exemplarisch in bisher nicht realisierter Weise Expressivität, Mikrotonalität und radikale künstlerische Gestaltung. Der Einweihung am 4. Juni 2017 folgt ein internationales Festival bis zum 27. August 2017.
Die flexible Windregulierung wird für das gesamte Werk, die einzelnen Teilwerke unabhängig voneinander und nicht zuletzt für jeden einzelnen Ton realisiert. Alles mit der klassischen Schleiflade, die sich historisch bewährt hat und dem Spieler maximale Sensibilität gewährt.
Der Versuch, größte klangliche Expressivität durch den Wind zu erreichen, wird außerdem in einem vierten Manual umgesetzt, dessen durchschlagende Zungenregister im Spieltisch auf einem eigenen Balg untergebracht sind. Diesen Balg kann der Spieler unmittelbar beeinflussen.
Dem Pfeifenbau, der Spieltraktur, der Registertraktur sowie der Intonation wird höchste Aufmerksamkeit zuteil. Ein Beispiel für viele kann hier genannt werden: in der Setzeranlage können sämtliche Schleifenpositionen gespeichert werden.
Eine Frage beschäftigt die Orgelkommission intensiv: Wie können die Anforderungen an Teiltöne über der Zwölftonskala in einer Orgel realisiert werden. Wir wissen, dass Komponisten dies heute mehrheitlich fordern. Der Orgelbau hat darauf bisher keine Antwort gefunden, die einen definierten Zugriff erlaubt. Hier beschreitet die geplante Orgel St. Martin Neuland, indem das vierte Manual komplett vierteltönig ausgebaut wird. 24 Töne pro Oktave stehen den Komponisten hier zur Verfügung. Die technische Umsetzung lehnt sich, nach intensiver Recherche, an den historischen Cembalobau mit Subsemitonien an.
Nicht zuletzt ist auch die Visualisierung des Klangkörpers ein radikaler Schritt in die Gegenwart. In einem gesonderten Wettbewerb konnte der norwegische Künstler Yngve Holen die Jury mit seinem Konzept überzeugen, das er mit Unterstützung des Architekten Ivar Heggheim verwirklicht.
Der künstlerische Entwurf von Yngve Holen hebt die Schwere des Baukörpers durch skulpturale Leichtigkeit auf und transformiert den Klang der Pfeifen in sichtbare Bewegung. Rhythmisch gestaffelt, greifen die minimalistisch gestalteten Orgelpfeifen die Architektur des Kirchenbaus auf, ohne dabei die Leichtigkeit der Gestaltung zu stören.
Das Instrument
Am besten beschreibt dieses Instrument die sogenannte Disposition, also die Klangkomposition der Orgel. Da diese sehr komplex ist wollen wir Ihnen hier ein paar Fakten zur neuen Orgel nennen:
- Die Planung der Orgel dauerte ca. 5 Jahre.
- Die Herstellung aller über 15.000 Einzelteile in der Firma Rieger dauert mit ca. 40 Mitarbeitern ungefähr 9 Monate.
- Der technische Aufbau in der Kirche dauert ca. 3 Monate durch ein 10-köpfiges Team.
- Die klangliche Gestaltung, die sogenannte Intonation, dauert in St. Martin noch einmal ca. 5–6 Monate.
- Die künstlerische Gestaltungsentwicklung aller Details dauert ca. zwei Jahre.
- Die Orgel verfügt über 2 voneinander unabhängige Werke: ein fahrbares Modul auf dem Boden des Kirchenschiffes, welches auch in die Chorkirche verfahrbar sein wird, und ein großes Orgelwerk an der Westwand der Kirche, an dem Platz, wo seit Jahrhunderten die großen Orgeln von St. Martin ihren Platz hatten. Durch die räumliche Auffächerung soll der Anspruch zeitgenössischen Komponierens nach differenzierter Raumnutzung realisiert werden.
- Die Orgel an der Westwand verfügt über vier Manuale und Pedal. Das fahrbare Modul über 2 Manuale und Pedal. Das Modul ist vom Hauptspieltisch auf der Empore zusätzlich spielbar.
- Das vierte Manual ist in 24 Töne pro Oktave geteilt, vier Register in diesem Manual sind vierteltönig ausgebaut. Diese Register sind in der Disposition grün markiert.
- Die Hauptorgel verfügt über vier schwellbare Werke: Positiv, Schwellwerk I, Schwellwerk II und Kleinpedal
- Die Hauptorgel verfügt über 10 unabhängig voneinander zu steuernde Windsysteme: Hauptwerk, Positiv, Schwellwerk I, Schwellwerk II, Melodikawerk, Pedal, gesamte Hauptorgel, gesamtes Modul, 1. Manual und 2. Manual im Modul unabhängig voneinander.
- Die Orgel verfügt über 21 Zungenstimmen, in der Disposition rot markiert.
- Da die Zusammensetzung der Mixturen noch nicht abschließend entschieden ist, kann die Anzahl der Pfeifen noch nicht definitiv genannt werden. Es werden aber sicher mehr als 5000 Pfeifen werden.
- Die längste Pfeife misst ca. 11 Meter (die Kirche ist ca. 19 Meter hoch), die kleinste ca. 8 mm.
- Die schwerste Pfeife wiegt über 400 kg, die kleinste Pfeife wenige Gramm.
- Die Orgel verfügt über 4 Zusatzregister, teilweise ist dies Schlagwerk (siehe in der Disposition A, B, C, D).
Disposition der Orgel als PDF-Datei: klick hier