ORGANpromotion

ORGAN MANAGEMENT IN EUROPE SINCE 1990 • CD- AND DVD-LABEL

 

Mein Wort an die Menschen

Ich rufe die Menschheit auf zur Ethik der
Ehrfurcht vor dem Leben. Diese Ethik macht
keinen Unterschied zwischen wertvollerem und
weniger wertvollem, höherem und niederem
Leben. Sie lehnt eine solche Unterscheidung ab.
Denn der Versuch, allgemeingültige
Wertunterschiede zwischen den Lebewesen
anzunehmen, läuft im Grunde darauf hinaus, sie
danach zu beurteilen, ob sie uns Menschen nach
unserem Empfinden näher oder ferner zu stehen
scheinen. Dies aber ist ein ganz subjektiver
Maßstab. Wer von uns weiß denn, welche
Bedeutung das andere Lebewesen an sich und im
Weltganzen hat? Die Konsequenz dieser
Unterscheidung ist dann die Ansicht, dass es
wertloses Leben gäbe, dessen Vernichtung oder
Beeinträchtigung erlaubt sei. Je nach den

     Umständen werden dann unter wertlosem Leben
Insekten oder „primitive“ Völker verstanden.

Die unmittelbare Tatsache im Bewusstsein des
Menschen lautet: „Ich bin Leben, das leben will,
inmitten von Leben, das leben will.“ Diese
allgemeine Bejahung des Lebens ist eine geistige
Tat, in der der Mensch aufhört dahinzuleben, in
der er vielmehr anfängt, sich seinem Leben mit
Ehrfurcht hinzugeben, um ihm seinen wahren
Wert zu geben. Der auf diese Weise denkend
gewordene Mensch erlebt zugleich die
Notwendigkeit, allem Willen zum Leben die gleiche
Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie
dem eigenen. So erlebt er das andere Leben in dem
seinen. Als gut gilt ihm alsdann: Leben zu erhalten
und zu fördern, entwickelbares Leben auf seinen
höchsten Wert zu bringen. Als böse gilt ihm nun:
Leben schädigen oder vernichten, entwickelbares
Leben in der Entwicklung hindern. Dies ist das
absolute und denknotwendige Grundprinzip des


 Seite 1


 

Sittlichen. Durch die Ethik der Ehrfurcht vor dem
Leben kommen wir in ein geistiges Verhältnis zur
Welt.


In meinem Leben habe ich immer versucht, in
meinem Denken und Empfinden jugendlich zu
bleiben und habe stets von neuem mit den
Tatsachen und meiner Erfahrung um den Glauben
an das Gute und Wahre gerungen. In dieser Zeit, in
der Gewalttätigkeit sich hinter der Lüge verbirgt
und so unheimlich wie noch nie die Welt
beherrscht, bleibe ich dennoch davon überzeugt,
dass Wahrheit, Friedfertigkeit und Liebe, Sanftmut
und Gütigkeit die Gewalt sind, die über aller
Gewalt ist. Ihnen wird die Welt gehören, wenn nur
genug Menschen die Gedanken der Liebe und der
Wahrheit, der Sanftmut und der Friedfertigkeit rein
und stetig genug denken und leben.


Alle gewöhnliche Gewalt in dieser Welt schafft sich
selber eine Grenze, denn sie erzeugt eine

    Gegengewalt, die ihr früher oder später ebenbürtig
oder überlegen sein wird. Die Gütigkeit aber wirkt
einfach und stetig. Sie erzeugt keine Spannungen,
durch die sie sich selbst aufhebt, sondern sie
entspannt die bestehenden Spannungen, sie
beseitigt Misstrauen und Missverständnisse. Indem
sie Gütigkeit weckt, verstärkt sie sich selber.
Deshalb ist sie die zweckmäßigste und intensivste
Kraft. Was ein Mensch an Gütigkeit in die Welt
hinausgibt, das arbeitet an den Herzen der
Menschen und an ihrem Denken. Unsere törichte
Schuld ist, dass wir nicht ernst zu machen wagen
mit der Gütigkeit. Wir wollen immer wieder die
große Last wälzen, ohne uns dieses Hebels zu
bedienen, der unsere Kraft verhundertfachen kann.
Eine unermesslich tiefe Wahrheit liegt in dem
Worte Jesu „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie
werden das Erdreich besitzen.“


Die Ehrfurcht vor dem Leben gebietet uns, den
hilfsbedürftigen Völkern in aller Welt Hilfe zu


 Seite 2


 

bringen. Den Kampf gegen die Krankheiten, von
denen diese Völker bedrängt sind, hat man fast
überall zu spät begonnen. Letzten Endes ist alles,
was wir den Völkern der früheren Kolonien Gutes
erweisen, nicht Wohltat, sondern es ist unsere
Sühne für das Leid, das wir Weißen von dem Tage
an über sie gebracht haben, da unsere Schiffe den
Weg zu ihren Gestaden fanden. Es muss dahin
kommen, dass Weiß und Farbig sich in ethischem
Geist begegnen. Dann erst wird eine echte
Verständigung möglich sein. An der Schaffung
dieses Geistes zu arbeiten, heißt zukunftsreiche
Politik treiben.


Wer durch menschliche Hilfe aus schwerer Not
oder Krankheit gerettet wurde, der soll mithelfen,
dass die, die heute in Not sind, einen Helfer
bekommen, wie er einen hatte. Dies ist die
Bruderschaft der vom Schmerz Gezeichneten. Ihr
obliegt das menschliche und das ärztliche
Humanitätswerk bei allen Völkern. Aus den Gaben
    der Dankbarkeit soll dieses Werk getan werden.
Ich will glauben, dass sich genug Menschen finden
werden, die sich zu Opfern der Dankbarkeit
erbitten lassen werden für die, die jetzt in Not sind.

Die Not aber, in der wir bis heute leben, ist die
Gefährdung des Friedens. Zur Zeit haben wir die
Wahl zwischen zwei Risiken. Das eine besteht in
der Fortsetzung des unsinnigen Wettrüstens in
Atomwaffen und der damit gegebenen Gefahr des
Atomkriegs. Das andere im Verzicht auf
Atomwaffen und in dem Hoffen, dass Amerika, die
Sowjetunion und die mit ihnen in Verbindung
stehenden Völker es fertigbringen werden, in
Verträglichkeit und Frieden nebeneinander zu
leben. Das erste Risiko enthält keine Möglichkeit
einer gedeihlichen Zukunft. Das zweite tut es. Wir
müssen das zweite wagen.


Die Theorie, man könnte den Frieden dadurch
erhalten, dass man den Gegner durch atomare

 
Seite 3


 

Aufrüstung abschreckt, kann für die heutige Zeit
mit ihrer so gesteigerten Kriegsgefahr nicht mehr
in Betracht gezogen werden. Das Ziel, auf das von
jetzt bis in alle Zukunft der Blick gerichtet bleiben
muss, ist, dass völkerentzweiende Fragen nicht
mehr durch Kriege entschieden werden können.
Die Entscheidung muss friedlich gefunden werden.


Ich bekenne mich zu der Überzeugung, dass wir
das Problem des Friedens nur dann lösen werden,
wenn wir den Krieg aus einem ethischen Grund
verwerfen, nämlich weil er uns der
Unmenschlichkeit schuldig werden lässt. Ich habe
die Gewissheit, dass der Geist in unserer Zeit
ethische Gesinnung zu schaffen vermag. Deshalb
verkünde ich diese Wahrheit in der Hoffnung, dass
sie nicht als eine Wahrheit beiseitegelegt werde, die
sich in Worten gut ausnimmt, für die Wirklichkeit
aber nicht in Betracht kommt.
    Mögen die, welche die Geschicke der Völker in
Händen haben, darauf bedacht sein, alles zu
vermeiden, was die Lage, in der wir uns befinden,
noch schwieriger und gefahrvoller gestalten
könnte.


Mögen sie das wunderbare Wort des Apostels
Paulus beherzigen: „Soviel an euch liegt, habt mit
allen Menschen Frieden!“ Es gilt nicht nur den
einzelnen, sondern auch den Völkern. Mögen sie
im Bemühen um die Erhaltung des Friedens
miteinander bis an die äußerste Grenze des
Möglichen gehen, damit dem Geiste der
Menschlichkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben
zum Erstarken und zum Wirken Zeit gegeben
werde.

 
Seite 4

 Der Text wurde im Jahr 1964 von Dr. Christoph Staewen
anlässlich des 90. Geburtstags von Albert Schweitzer

in Lambaréné/Gabun aufgezeichnet.

 

 

Albert Schweitzer persönlich zuhören:

www.soundcloud.com