Rezension von Günter Hinrichs:
Deutsch-Romantische Orgelmusik aus Hildesheim
Seit Mai 2022 hat die Basilika St. Godehard in Hildesheim nach langer Wartezeit endlich eine technisch überarbeitete und zugleich erweiterte Orgel, die im Kern auf ein Instrument der Firma Furtwängler & Hammer zurückgeht und seit 1912 in der Kirche steht. Das Instrument eignet sich damit besonders zur Darstellung deutsch-romantischer Orgelmusik.
Martin Kohlmann hat die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und die erste CD-Aufnahme mit der neuen Orgel vorgenommen. Sie ist im Februar 2023 beim Label Ambiente Audio erschienen und präsentiert Felix Mendelssohn Bartholdys 4. Orgelsonate in B-Dur, Johannes Brahms Elf Choralvorspiele und Max Regers Phantasie und Fuge über den Choral "Wie schön leuchtet der Morgenstern". Die Einspielung wurde mit Hilfe eines Künstlerstipendiums des Landes Niedersachsen zur Förderung von Künstlern infolge der Corona-Pandemie realisiert.
Der Auftakt mit Mendelssohns Sonate gelingt mit technischer Brillianz und mitreißender Spielfreude. Die dreigliedrige Anlage des Eröffnungssatzes mit einem bewegten Anfangsteil, einem ouvertürenartig punktierten Mittelteil und einem Schlussteil, der die Figuration des Beginns mit dem thematischen Material des Mittelteils überlagert, ist mit verständlicher Durchhörbarkeit umgesetzt. Das Andante religioso und das leicht bewegte Allegretto mit kantabler Deklamation bilden einen sanften Kontrast zu den Ecksätzen; besonders im Schlusssatz überzeugt wieder die spielerische Virtuosität, bei der die Transparenz der thematischen Gestalten und Phrasen nicht auf der Strecke bleibt.
Johannes Brahms Elf Choralvorspiele sind nicht als Zyklus gedacht, zumal sie erst nach Brahms Tod unter dieser Überschrift veröffentlicht wurden. Umso herausfordernder ist der Versuch, eine zyklische Einspielung vorzulegen. Kohlmanns Registrierung der einzelnen Bearbeitungen ist einerseits durchdacht, schafft jedoch keine allzu große klangliche Vielfalt, zu der die reiche Grundstimmenpalette der Orgel einlädt: die Kombination der vielen Achtfußregister, wenn auch variiert eingesetzt, klingt oft sehr ähnlich.
Die CD begleitet ein sehr ausführliches und detailliert recherchiertes Booklet, in dem der Interpret zu jedem der eingespielten Werke Bezüge zur Orgelmusik Bachs herstellt. Die Bezüge zum Bachschen Orgelbüchlein und seinem Kontrapunkt sind in Brahms Choralvorspielen plastisch herausgearbeitet und damit gut nachvollziehbar. Kohlmanns Agogik und sein Musizieren mit dem großen Kirchraum, z. B. im zweiten Choral "O Welt, ich muss dich lassen", sind zwar mit Blick auf Dissonanzbehandlung und Nachhall plausibel, führen hier und da aber zu rhythmischen Verschleierungen des Notentextes, den man sich auch konsequenter umgesetzt hätte vorstellen können.
Zum Schluss Max Regers monumentale Choralfantasie über "Wie schön leuchtet der Morgenstern". Reger selbst schrieb "Meine Orgelsachen sind schwer". Von technischer Schwierigkeit ist in dieser Interpretation des großen Werks allerdings nichts zu spüren. Mit spielerischer Leichtigkeit wird der höchst anspruchsvolle Notentext, besonders in der Fuge mit energischem Drang nach vorn bis zum finalen Adagio, sensationell umgesetzt. Durchweg beeindruckt auch die abwechselnd ansteigende und abfallende Dynamik, die mit Blick auf die Registrierung quasi lückenlos umgesetzt ist und damit den Choraltext predigend nachmalt. Kohlmann hält sich merklich an Regers Registereintragungen: Mit Blick auf die Durchhörbarkeit der Choralthemen wäre es aber durchaus denkbar gewesen, eigene Ideen zur Registrierung zu finden und die Melodien damit noch deutlicher hervorzubringen.
Insgesamt dokumentiert die CD aussagekräftig die dritte Orgel-Solo-Einspielung des Künstlers, der bereits mit einem barocken Programm und französisch-symphonischem Repertoire auf sich aufmerksam gemacht hat und mit dieser CD einen weiteren Erfolg feiern darf. Günter Hinrichs, März 2023
Rezension von Andreas Schmidt:
Dass Martin Kohlmann die Furtwängler & Hammer Orgel der Basilika St. Godehard in Hildesheim dokumentiert, kaum dass die Restaurierung und Erweiterung durch die Firma E. Hammer Orgelbau abgeschlossen wurde, ist ein erster Pluspunkt dieser Aufnahme. Kohlmann greift auf altbewährtes und viel gehörtes Repertoire der deutschen Orgelromantik zurück. Neben dem in diesem Jahr unvermeidlichen Reger (150. Geburtstag!) wären eher unbekannte Werke sicher auch interessant gewesen. Gleichwohl schlägt der Organist mit Mendelssohn Bartholdy, Brahms und Reger
einen zeitlich und dramaturgisch stimmigen Bogen.
Auch in seinen Orgelsonaten wollte Mendelssohn Bartholdy seine Herkunft vom Klavier nicht leugnen. Das greift Kohlmann dankbar auf und fächert gleich im ersten Satz eine pianistische Klangpracht auf. Insbesondere der dritte Satz Allegretto ist fein ausformuliert. Im abschließenden Allegro maestoso bringt er nahezu -mit Mixturen und Zungen registriert- barocke Pracht zum strahlen. Das lässt aufhorchen und macht neugierig: wie mag wohl Bach auf dieser Orgel klingen?
Brahms schrieb seine letzten Orgelwerke unter dem Eindruck des Todes seiner geliebten (Geliebten?) Freundin Clara Schumann und hatte wohl auch den eigenen Tod vor Augen. Die elf Choralvorspiele atmen Abschied und wehmütige Erinnerung. Elf unterschiedliche Stücke verführen dazu, den Klangreichtum einer Orgel vorzuführen. Dieser Versuchung widersteht Kohlmann und wählt durchweg passende dunkle Streicherfarben. Im Bestreben, den kostbaren Augenblick so lange wie möglich festzuhalten, dürften sicher für einige Stücke (z.B. Schmücke dich, o liebe Seele |O Welt, ich muss dich lassen | Es ist ein Ros entsprungen) ruhigere Tempi gewählt werden. Dennoch, was zählt, ist, sich diesem Opus ultimum zu stellen. Das ist dem Organisten aus meiner Sicht voll und ganz gelungen.
In der abschließenden Morgenstern-Choralphantasie von Reger greift Kohlmann buchstäblich nach den Sternen. Hier ist er völlig authentisch. Er kümmert sich nicht um den oft missverstandenen Ausspruch Regers: „Junger Mann, spielens meine Sachen halt net zu schnell...“ (wie schnell ist zu schnell?). Vielmehr stürmt er, wo es geboten scheint, voller Tatendrang voran. Um die dynamische
Bandbreite der Orgel noch mehr auszureizen, wäre ein leiserer Beginn der Fuge (trotz „forte“-Vorschrift) vielleicht geeigneter. Insgesamt eine grandiose Interpretation, die mitreißt und puren Optimismus verbreitet (den wir in dieser Zeit so dringend brauchen). Danke dafür.
Fazit: Kohlmann stellt sich drei Herausforderungen gleichzeitig: die Orgel zu präsentieren, die Werke angemessen zu würdigen und eigene künstlerische Ansprüche klar zu machen. Diese schwierige Balance gelingt ihm meiner Meinung nach sehr gut. Er ist auf dem Weg. Für ihn und die Zuhörenden ist zu wünschen, dass dieser Weg noch lange währt. Andreas Schmidt, März 2023